Im Interview: Carsten Cramer
Teamgeist vor Ego: BVB-Geschäftsführer Carsten Cramer über die Philosophie von Borussia Dortmund
22.11.2024

Carsten Cramer – Marketingprofi bei Borussia Dortmund
Nach dem Studium der Rechtswissenschaften begann Carsten Cramer seine Karriere als Geschäftsführer und Marketingleiter bei seinem Heimatklub Preußen Münster.
Im Jahr 2000 wechselte er in die Sportrechtevermarktung – zunächst als „Kohlemacher“ für den HSV, später übernahm er auch die Vermarktung von Borussia Dortmund. 2010 wurde Cramer Direktor für Vertrieb und Marketing beim BVB.
Seit 2018 ist er Mitgeschäftsführer der Borussia Dortmund Geschäftsführungs-GmbH. Zudem engagiert er sich in sozialen Projekten, etwa als Vorstand der BVB-Stiftung „Leuchte auf“ und Geschäftsführer der BVB-Fußballakademie.
Der Teamaufbau hat sich in den letzten Jahren stark professionalisiert. Vielleicht erfüllt der Prozess nicht in allen Aspekten die Anforderungen, die man aus dem Unternehmensmanagement kennt, aber das Zusammenstellen einer Mannschaft erfordert spezifische Kompetenzen bei den Verantwortlichen. Unsere Scouting-Abteilung, das Pendant zu einer Recruiting-Abteilung in der Wirtschaft, arbeitet extrem systematisch und strukturiert – sowohl im Nachwuchs- als auch im Profibereich.
Wir betreiben enormen Aufwand bei der Suche und übersehen kaum ein Talent auf der Welt. Allerdings stehen wir im Wettbewerb mit anderen Vereinen, deren Verantwortliche ebenfalls sehr fähig sind. Manche von ihnen sind punktuell auch mal schneller oder bieten jungen Spielern Perspektiven, die für sie attraktiver erscheinen. Dennoch spricht die Tatsache, dass wir viele Spieler schon in sehr jungen Jahren für uns gewinnen können, für unsere Kompetenz in diesem Bereich. Ein aktuelles Beispiel ist Jamie Gittens, den wir einst für 90.000 Euro von Manchester City verpflichtet haben und der inzwischen ein Vielfaches wert ist. Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind zentrale Bestandteile unseres Recruitings. Talente und deren persönliches Umfeld – das im Fußball-Recruiting einen viel größeren Einfluss hat als in der Wirtschaft – müssen überzeugt davon sein, dass sie sich bei uns optimal entwickeln können. Das beginnt bei der Möglichkeit, Spielminuten auf dem Platz zu bekommen, und umfasst auch langfristige Chancen im Verein. Borussia Dortmund verspricht nicht zu viel, sondern überzeugt mit realistischen Perspektiven. Genau das ist unsere Stärke. Am Ende können wir den Top-Talenten Spielberichtsbögen zeigen, die Schwarz auf Weiß beweisen: Bei uns kicken 17-, 18-Jährige nicht nur in der ersten Pokalrunde gegen einen Viertligisten, sondern auch in der Champions League gegen Real Madrid.
Die Spieler, die wir verpflichten, müssen nicht nur sportlich ins Team passen, sondern auch charakterlich – denn ein funktionierendes Team auf dem Platz ist noch wichtiger als im Büro. Um es umgangssprachlich zu sagen: Die Ansammlung von „faulen Äpfeln“, die für Borussia Dortmund spielen, ist relativ überschaubar. Damit meine ich, dass wir bewusst darauf achten, keine Spieler zu holen, die nicht zu unserer Philosophie passen. Die Abstände zwischen den Fettnäpfchen, in die wir im Recruiting treten, sind vergleichsweise groß, weil wir wissen, wofür wir stehen und wonach wir suchen.
Der Prozess ist äußerst zeit- und personalintensiv. Spieler werden über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet – durch Videoscouting, Spielbesuche und Gespräche im privaten Umfeld. Zudem holen wir Referenzen über spielerische und persönliche Qualitäten ein. Danach folgt ein intensiver Abstimmungsprozess zwischen Scouting-Team, Trainer und Management.
Borussia Dortmund ist ohne Frage ein sehr attraktiver Fußballverein, der durch seine internationale Strahlkraft, sportlichen Erfolge und emotionale Bindung viele Sponsoren anzieht. Unsere Historie, Präsenz und Erfolge in internationalen Wettbewerben machen uns zu einem begehrten Partner. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Sponsoring ist auch bei uns harte Arbeit. Wir müssen durchaus proaktiv auf den Markt zugehen und den Hörer in die Hand nehmen. Außerdem legen wir großen Wert darauf, dass unsere Partner zu unserer Identität passen. Genauso wie wir bei der Verpflichtung von Spielern auf deren Persönlichkeit und Charakter achten, prüfen wir auch bei Sponsoren, ob eine Zusammenarbeit mit unserer DNA vereinbar ist.
Die Entscheidung für die Partnerschaft mit Rheinmetall haben wir nicht leichtfertig getroffen – sie ist das Ergebnis eines intensiven, internen Diskussionsprozesses. Natürlich ist eine solche Kooperation finanziell attraktiv, aber die entscheidende Frage lautet immer: Passt der Sponsor zu uns? Rheinmetall ist ein renommiertes DAX-Unternehmen mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, dessen Geschäft durch die demokratisch legitimierte Bundesregierung kontrolliert wird. Die regionale Verbundenheit war ein wichtiger Faktor bei der Meinungsbildung.
Angesichts der heutigen geopolitischen Lage – geprägt durch den Ukraine-Krieg und andere Unsicherheiten – müssen Verteidigungs- und Sicherheitsfragen stärker in den Fokus der Gesellschaft rücken. Vor fünf Jahren hätte ich eine Partnerschaft mit einem Rüstungsunternehmen noch klar ausgeschlossen. Doch die Zeitenwende hat gezeigt, dass diese Themen nicht allein durch Politik oder die Bundeswehr adressiert werden können. Borussia Dortmund sieht sich als gesellschaftlicher Leuchtturm, der auch schwierige Themen aufgreifen kann. Mit unserer Strahlkraft möchten wir eine öffentliche Diskussion anstoßen, die über den reinen Fußball hinausgeht. Ganz wichtig: Wir akzeptieren auch jede andere Meinung zu diesem Thema.
Die verpasste Meisterschaft 2023 war ein einziges emotionales Desaster.
Carsten Cramer
Für Borussia Dortmund ist die internationale Expansion von großer Bedeutung. Wir haben mittlerweile Büros in New York, Shanghai und Singapur und dort auch mit internationalen Personalberatungen für die Personalsuche zusammengearbeitet. Gerade in diesen Märkten benötigen wir die Expertise von Marktbegleitern. Unsere DNA wirkt auch international, weil sie einzigartig ist. Während andere Clubs, besonders in England, eher als „Fußball-Unternehmen“ wahrgenommen werden, sind wir der „Club der Herzen“, mit einem klaren Fokus auf „Football as it’s meant to be“. Diese Geschichte wollen wir auch im Ausland erzählen. Das Bild der Südtribüne, die leidenschaftlichen Fans und deren Loyalität sind für uns sinnbildlich. Während andere Clubs Spieler wie Messi, Ronaldo oder Haaland als Aushängeschilder präsentieren, stehen bei uns die Menschen und ihre emotionale Verbundenheit zum Verein im Vordergrund.
Wir haben den Vorteil, dass einige unserer größten Sponsoren gleichzeitig auch die größten Aktionäre sind. Das schafft ein Verständnis dafür, dass ein reiner Fokus auf Rendite und Dividende die Leistungskraft des Vereins und damit auch die sportliche Substanz schwächen würde. Deshalb wird der Großteil der Mittel in die sportliche Infrastruktur und die Weiterentwicklung des Vereins investiert.
Unsere Stärke liegt darin, dass der Fußball in Deutschland funktioniert. Damit das auch so bleibt, müssen Ticketpreise bezahlbar sein. Der Fußball muss allen Menschen unserer Gesellschaft zu jeder Zeit zugänglich bleiben. Wenn auf der Südtribüne nicht mehr 25.000 Fans in Schwarz und Gelb stehen, sondern 12.000 Menschen mit Champagnergläsern in der Hand sitzen, die 100 Euro für ein Ticket zahlen, verliert Borussia Dortmund seine Glaubwürdigkeit. Höhere TV-Einnahmen sind wünschenswert, aber nicht um jeden Preis. Wenn dies etwa zu neun verschiedenen Anstoßzeiten in der Bundesliga führen würde, wäre das Opfer zu groß. Die Bundesliga muss attraktiv bleiben. Deshalb gehören auch Traditionsvereine wie der HSV oder der 1. FC Köln in die erste Liga. Schwächelnde nationale Ligen befeuern nur die Allmachtsfantasien des europäischen Fußballs, wie sie etwa in der Diskussion um die Super League aufkommen.
Ja, auch wir erleben den Fachkräftemangel in einigen Bereichen. Zwar gibt es bei Borussia Dortmund eine hohe Identifikation mit dem Verein und dem Standort – viele Bewerbungen beginnen mit den Worten „Ich bin Fan von Borussia Dortmund“ – aber das allein reicht weder als Motivation noch als Qualifikation. Im Ruhrgebiet verfügen wir im Niedriglohnsektor über eine solide Basis an Arbeitskräften, ich sage mal, unser Stadion bekommen wir schnell sauber. Doch bei der Rekrutierung junger, innovativer Talente stehen auch wir vor Herausforderungen. Und auch wir spüren die veränderten Erwartungen. Während früher gefragt wurde: „Bekomme ich eine Karte fürs Spiel?“, hören wir heute eher: „Muss ich wirklich bei allen 17 Heimspielen dabei sein?“.
Unsere Vereinsidentität basiert stark auf Emotionalität und Loyalität. Bei einem Schalke-Fan könnte ein potenzieller Loyalitätskonflikt hinderlich sein. Hier in Dortmund müssen Sie den Verein leben und spüren. Wir brauchen Besessenheit und Verrücktheit – sowohl auf dem Platz als auch in den Büros. Das wahre Anforderungsprofil bei uns ist: Leidenschaft und Commitment. Egal, ob auf dem Rasen oder in der Marketingabteilung, bei Borussia Dortmund müssen Sie bereit sein, sich für Schwarzgelb den Hintern aufzureißen. Diese Einstellung ist uns sogar wichtiger als fachliche Perfektion.
Das war eines der schlimmsten sportlichen Ereignisse, die ich je erlebt habe. Die Meisterschale lag förmlich auf dem Silbertablett – und dann haben wir alles verloren. Ein einziges emotionales Desaster! Wir wären der letzte Verein gewesen, der Bayern die Meisterschaft entrissen hat, und der erste, der es nach Jahren wieder geschafft hätte. Mittlerweile haben wir das Erlebnis verarbeitet, aber dafür haben wir länger gebraucht als wir vielleicht anfänglich gedacht hatten.
Wir lassen die Freude genauso zu wie die Tränen. Man kann uns nicht unterstellen, dass wir nicht wollten. Aber wir konnten an diesem Tag einfach nicht. Das haben die Fans gespürt und uns deshalb das Stadion auch nicht abgerissen. Borussia Dortmund steht für echte Emotionalität – mit all ihren Höhen und Tiefen. Das zeichnet uns aus und unterscheidet uns von anderen Vereinen. Der Bayern-München-Fan sagt, ja, mein Gott, dann werden wir nächstes Jahr wieder Meister. Wir werden eben nicht jedes Jahr Meister. Der BVB-Fan hat eine andere Charakteristik. Und am Ende gilt das auch für die Partner unseres Klubs. Für uns geht es nicht nur um Titel und Glanz, sondern um die Geschichten, die der Fußball schreibt, und um die tiefe Verbindung zu unseren Fans und Partnern.
Solange sich die Spieler mit Leidenschaft für Borussia Dortmund einsetzen, ihre Performance auf dem Platz stimmt und sie die Nähe zu den Fans, auch wenn sie digital ist, nicht scheuen, sehe ich keine Gefahr, dass das Image des Vereins durch ihre individuelle äußere Erscheinung leidet – nicht durch Gucci-Taschen oder die Mercedes G-Klasse. Wenn die Spieler allerdings nicht mehr für ein Selfie anhalten, kein öffentliches Training mehr zulassen und nicht dafür brennen, für diesen Verein zu spielen, dann haben wir ein Problem.
Dank der digitalen Welt haben wir aber auch die großartige Möglichkeit, die Marke Borussia Dortmund einem globalen Publikum zugänglich zu machen: Mit mehr als 40 digitalen Kanälen und ca. 80 Millionen Followern erreichen wir Menschen, die sonst vielleicht nie mit unserem Verein in Berührung gekommen wären. Wir hatten auf unseren Hauptkanälen während der vergangenen Saison auch nicht umsonst die mit weitem Abstand höchste Interaktionsrate aller europäischer Spitzenklubs pro Post. Diese Kombination aus Reichweite und Interaktion ist eine enorme Chance, die wir nutzen, um die Botschaft von Borussia Dortmund weltweit zu verbreiten.
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