unconscious bias - vorurteile im arbeitsleben

Strategien für den Umgang mit unbewussten Denkmustern

20.12.2022

Im Interview: Professor Dr. Désirée Ladwig

Prof. Dr. Désirée Ladwig

Désirée Ladwig ist seit 2008 Professorin für ABWL, Internationales Management und Human Resource Management an der Technischen Hochschule Lübeck. Sie berät Unternehmen sowie die Öffentliche Verwaltung im Bereich Personal, Organisation und Unternehmensführung.

Überdies koordiniert sie „genderdax“, eine Gender & Diversity Community, die sich an Frauen und Männer in Fach- und Führungspositionen richtet. Neben Gender & Diversity Management sind ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte: Arbeitswelt 4.0, agile Organisationen sowie Innovative Arbeits(zeit)- und Karrieremodelle.

Auf das menschliche Gehirn prasseln in jeder Sekunde rund 11 Millionen Informationen ein. Davon können wir gerade einmal 40 Aspekte verarbeiten. Über den Rest macht sich unser Unterbewusstsein her und sortiert alles mithilfe von geistigen Verknüpfungsprozessen in die vermeintlich passenden Schubladen ein – ein effizientes und ressourcenschonendes System, das unser Überleben und Funktionieren seit Jahrtausenden sichert. Aber die kognitiven Schnellschüsse können zu „Bias“, also Wahrnehmungsverzerrungen führen, wie zum Beispiel Vorurteilen, Stereotypen oder anderen Denkfehlern, die uns bei der Entscheidungsfindung im Privat- und Berufsleben beeinflussen.

Vorurteile sind in allen Bereichen des Arbeitslebens anzutreffen. Die Diversität in Unternehmen wächst kontinuierlich und mit ihr kann auch die Gefahr der Voreingenommenheit wachsen. Belegschaften werden national wie global aufgestellt und dabei immer „bunter“. Vorurteile können zu Fehlentscheidungen bei der Personalarbeit führen, zu Mobbing, sinkender Arbeitszufriedenheit, Leistungsabfall, Gruppenkonflikten und gar zur Abkehr von der eigentlich gewollten Unternehmenskultur. Erfolgreich gegen Vorurteile vorzugehen, ist eine große Herausforderung.

Professor Dr. Désirée Ladwig hilft Unternehmen dabei, unbewusste Prozesse und Funktionsweisen von (Vor-)urteilen zu verstehen, eigene Stereotype und Verhaltensweisen wahrzunehmen und zu reflektieren sowie Handlungsoptionen zu entwickeln und einzeln und im Team zu trainieren.

Frau Professor Ladwig, wie sind Sie zum Thema „Unconscious Bias“ gekommen?

Ich beschäftige mich bereits seit Jahrzehnten mit Fragen der Chancengleichheit. Unter anderem durch die genderdax-Community, die ich seit 17 Jahren moderiere. Dort tauscht sich ein Kreis von 35 bis 40 Unternehmen über die Entwicklungen im Bereich Personal, Chancengleichheit und immer mehr auch Diversity-Themen aus. Anderssein als Chance und nicht als Bedrohung zu betrachten, ist ein zentrales Anliegen. Und dem stehen Vorurteile natürlich oft entgegen.

Wie reagieren Menschen in der Regel auf Vorurteile und wovon hängt die Reaktion ab?

Die Reaktion wird vom Selbstbewusstsein und der Art der Sozialisierung bestimmt. Manche Menschen lächeln Vorurteile einfach weg, andere verfallen in die erwartete Rolle und bestätigen damit die gegen sie gerichteten Vorurteile. Wer wir selber sind leiten wir maßgeblich daraus ab, wie wir von anderen gesehen werden. Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass Frauen bei mathematischen Tests schlechter abschneiden, wenn sie vorher auf das Stereotyp der mangelnden weiblichen Mathe-Begabung hingewiesen wurden – ein typischer „Self-Unconscious Bias“. Eine „Self fulfilling Prophecy“ zeigte sich auch bei dunkelhäutigen Männern, die mit einem negativen Verhalten reagierten, wenn sie im Bewerbungsgespräch weniger freundlich und respektvoll behandelt wurden.

Sind Vorurteile beim Menschen „systemimmanent“?

Absolut. In unseren Genen steckt noch viel steinzeitliches Verhalten. Vorurteile dienten unseren Vorfahren als Schutz vor Gefahren, indem sie schnell signalisierten, ob man es mit Freund oder Feind zu tun hatte. Im Angesicht des Säbelzahntigers bleibt keine Zeit für eine sorgfältige Abwägung der Gefahrenlage. Die Evolution hat gezeigt: Wer schnell reagiert (Stereotyp) überlebt eher und kann die eigenen Gene weitergeben. Die „Kamikazeflieger“, die damals zu lange nachdachten und differenziert beurteilen wollten, sind öfter auf der Strecke geblieben, als die „Vorsichtigen“.

Wie viele Arten von Unconscious Bias gibt es?

Es sind wissenschaftlich bisher mehr als 180 Arten untersucht worden. Daraus kristallisiert sich ein gutes Dutzend Bias heraus, die uns am häufigsten begegnen, wie zum Beispiel der „Confirmation Bias“, der beschreibt, wie Menschen nach Beweisen suchen, die ihre bestehenden Denkmuster bestätigen. Die selektive Begutachtung führt dazu, dass übersehen wird, was nicht zum eigenen Denkmuster passt, denn eine Inkonsistenz zwischen bestehender Meinung und neuem Eindruck ist anstrengend.

Social Media und die individuelle Blase, in der die meisten Nutzer oft unbemerkt agieren, ist ein plakatives Beispiel dafür, wie sich Vorurteile manifestieren und befeuern können. Ein weiterer verbreiteter Bias ist der „Affinity Bias“. Damit wird die unbewusste Bevorzugung von Personen bezeichnet, die der eigenen Person oder einer, die man sympathisch findet, vom Verhalten oder der Art ähneln. Diesen Mechanismus kennen wir unter anderem aus Führungsebenen mit niedriger Frauenquote, wo Männer dazu tendieren, „ihresgleichen“ einzustellen. Als Ansatz zur Bewusstmachung empfehle ich in meinen Beratungsprojekten, sich ein bis zwei Bias herauszugreifen und gemeinsam mit den Kollegen das eigene Verhalten zu beobachten und Beispiele zu sammeln.

Von 'Fifty Shades of Grey' zu 'Millions of Colours'.

5 einfache Tipps für den Umgang mit unbewussten Denkmustern

1. Wahrnehmung trainieren

Was sehe ich wirklich, was glaube ich zu sehen?

2. Erkennen differenzieren

Statt „schwarz-weiß“ lieber „Millions of Colours“

3. Interpretieren

Achtung Stereotypen – wo habe ich meine „Schubladen“?

4. Beurteilen

Achtung Vorurteile – wo diskriminiere ich eventuell?

5. Reiz-Reaktions-Verzögerung

Ich reflektiere über 1-4 und werde erst dann aktiv

Wie kann man dieses Bewusstsein trainieren?

Das unbewusste Wahrnehmungsmuster besteht aus einem automatischen Ablauf von Beobachtung, Interpretation und Beurteilung. Bevor nun die Bewertungs-Schublade aufgezogen wird, muss der Mechanismus unterbrochen und aktiv hinterfragt werden, was einen gerade triggert (siehe Grafik S. 9). Die Reiz-Reaktionsverzögerung erfolgt bestenfalls bevor eine Handlung oder Aussage getätigt wird. In unserer komplexen Welt vereinfachen Kategorisierungen den Alltag, verhindern aber oft, dass wir Menschen in ihrer Komplexität und mit all ihren Facetten betrachten. Ich erwarte in diesem Zusammenhang von meinen Studierenden, dass sie nach dem Bachelor nicht mehr in Schwarz-Weiß-Kategorien denken, sondern „Fifty Shades of Grey“ differenzieren können, nach dem Master sollten sie dann in der Lage sein, „Millions of Colours“ wahrzunehmen.

Wie werden Vorurteile und Unconscious Bias gemessen?

Man unterscheidet direkte und indirekte Verfahren. Bei direkten wird nach Stereotypen und Vorurteilen gefragt – hier bestehen Zweifel an der Ehrlichkeit und es tritt die Problematik der sozialen Erwünschtheit auf. Indirekte Verfahren zielen auf die individuellen Prozesse der Verarbeitung stereotyper Informationen ab und arbeiten zum Beispiel mit Checklisten, die die prägendsten Eigenschaften für die zu untersuchende Stereotypengruppe von Probanden ermitteln. Beim Reaktionszeitverfahren werden bestimmte Begriffe gezeigt, auf die ein Proband mit dem Drücken einer „positiv“- oder „negativ“-Taste reagiert. In einem zweiten Durchlauf werden dem Probanden millisekundenlang (unterhalb der Wahrnehmungsschwelle) Bilder von Menschen gezeigt, die vermeintlich vorurteilsbehaftet sind (andere Ethnien, Ältere, Behinderte etc.). Von den Unterschieden in der Reaktionszeit lassen sich Rückschlüsse auf den Unconscious Bias ziehen.

Was können Unternehmen tun, um ihre Personaleinstellungen zu „neutralisieren“?

Man muss sich von der Idee verabschieden, dass wir überhaupt objektiv sein können. Aus dem Bereich der Quantenphysik weiß man, dass Beobachter allein mit ihren Gedanken das Ergebnis eines Experiments beeinflussen können. Wenn wir mit anderen Menschen in Kontakt sind, nehmen wir Mikrobewegungen wahr, die innerhalb von einer Millisekunde ein positives oder negatives Bild unseres Gegenübers festigen. Diese Prozesse laufen automatisch ab. Wenn wir uns darüber im Klaren sind, können wir peu à peu mit viel Training unseren Unconscious Bias ins Bewusstsein verhelfen und dann entscheiden, ein Vorurteil zu leben oder uns damit auseinanderzusetzen und es abzubauen. Allein die Tatsache, dass mein Mann und ich beide Professoren sind, hat beispielsweise bei unseren Töchtern dazu geführt, dass die Lehrerinnen und Lehrer mit einer zu positiven Grundhaltung an die Korrektur ihrer Klausuren gegangen sind und Fehler öfter übersehen haben.

Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil.

Sollten Unternehmen Einstellungsentscheidungen dann besser KI-Systemen überlassen?

Die Künstliche Intelligenz, die wir heute kennen und nutzen, ist kaum frei von Diskriminierung. Wenn die Trainingsdaten, anhand derer der Algorithmus lernt, bereits durch Diskriminierungen verzerrt sind, werden die Auswahlentscheidungen systematisch vorurteilsbehaftet sein. Dies passiert insbesondere durch die Orientierung an Vergangenheitsdaten und der daraus resultierenden Bevorzugung bzw. dem Ausschluss bestimmter Personengruppen.

Wie hoch ist der Grad der Fehleinstellungen bzw. wie viel Potenzial lassen sich Unternehmen durch Unconscious Bias entgehen?

Konkrete Untersuchungen sind diesbezüglich kaum möglich, aber Experten schätzen, dass 80 Prozent der Einstellungsentscheidungen auf Unconscious Bias beruhen. Das heißt, wir treffen in Bruchteilen von Sekunden eine unbewusste Entscheidung und sind dann zum Beispiel in einem Assessment Center einen ganzen Tag lang damit beschäftigt, sie logisch zu erklären. Argumente für oder gegen eine Person finden sich immer. Viele Unternehmen nutzen zur Absicherung Intelligenz- oder Persönlichkeitstests. Diese sind sehr valide, aber die Beurteilung der Ergebnisse kann dann wiederum tendenziös sein – je nach Reifegrad des Beobachtenden. 

Was können Unternehmen strukturell tun, bewusste und unbewusste Bias zu reduzieren?

Es hat sich gezeigt, dass kurze oder einmalige Interventionen keine nachhaltigen Veränderungen der Einstellungen mit sich bringen. Nur ein langfristiger Change-Management-Ansatz mit einer Vielzahl von Maßnahmen zum reflektierten Umgang mit Bias und Trainings zur Sensibilisierung können einen nachhaltigen Kulturwandel bewirken. Die Implementierung heterogener Teams kann ebenfalls hilfreich sein. Auch die Gewissheit, dass man im Unternehmen für seine Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden kann oder sein Mentoring erklären muss, erhöht die Achtsamkeit.

Frau Professor Ladwig, vielen Dank für das Gespräch.

TOPOS-auf-den-punkt_No.2_2022_Titel

Weitere Themen:

Green Transition
Dänemark: Das Emirat der Erneuerbaren Energien?
Im Interview: Mads-Ole Astrupgaard, Wind Power Denmark

Die Zukunft des Recruitings
„Arbeiterlosigkeit“ ist die Herausforderung der Zukunft.
Was können Unternehmen tun, um Talente zu gewinnen?

auf den punkt. Dezember | 2022

Fingerprint