Disruption in der
Automobilindustrie

Die Automobilindustrie ist neben dem Maschinenbau eine der Schlüsselindustrien der deutschen Wirtschaft, die entscheidend dazu beiträgt, dass Deutschland sich auf dem Weltmarkt als Export-Champion präsentiert. Jedoch ist die Branche in schwere See geraten. Die Anzahl der weltweit produzierten PKW sank von 73,5 Millionen im Jahr 2017 kontinuierlich auf ca. 61,6 Millionen in 2022. Darüber hinaus stehen für das angebrochene Jahrzehnt technische und strukturelle Veränderungen ins Haus, die die überkommenen Marktverhältnisse ordentlich durchrütteln, bis auf den Kopf stellen könnten. Angesichts der anstehenden Herausforderungen könnte sogar der eine oder andere führende Player auf dem Weltmarkt seinen „KODAK-Moment“ erleben: gestern noch Marktführer, morgen schon in der Versenkung verschwunden.

Disruption #1: Ersatz des Verbrennungsmotors durch den Elektroantrieb

Das zentrale Element des Fahrzeugs, der Verbrennungsmotor, welcher den Übergang von der Kutsche zum Automobil und damit die Geburtsstunde der Automobilindustrie markierte, steht vor der Ablösung durch den Elektromotor. Damit wird vorhandene Expertise entwertet, neue Kompetenzen und Komponenten sind gefordert.

Arbeitsplätze gehen verloren

In der Summe werden Arbeitsplätze verloren gehen, weil der Bau eines Elektromotors im Vergleich zum Verbrenner einfach mit einer kleineren Mannschaft zu bewältigen ist. Mancher Zulieferer, der überwiegend für den Verbrenner entwickelt und produziert hat und nicht über das nötige Know-how und Kapital verfügt, um auf neue Komponenten und Module umzusteigen, wird auf der Strecke bleiben. Dafür werden andere wachsen und neue Zulieferunternehmen entstehen.

Das Business-Modell bleibt bestehen

Aber das grundsätzliche Business-Modell der Automobilindustrie und ihr Wertversprechen wird im Grundsatz nicht tangiert. Der Automobilhersteller liefert seiner Kundschaft weiterhin das Gerät, um sich, wann immer er will, schnell und bequem von A nach B zu bewegen. Daran ändert der alternative Antrieb gar nichts. Auch für den OEM ändert sich nichts Prinzipielles, wenn er in Zukunft statt eines Verbrennungs- einen Elektromotor in seine Fahrzeuge einbaut. Er steuert sein Netzwerk von Zulieferern, die ihm die Teile und Systeme liefern, die er zu einem Fahrzeug zusammenführt.

Die meisten Marktteilnehmer schaffen den Umstieg

Es zeichnet sich inzwischen bereits ab, dass die meisten Fahrzeughersteller diese Herausforderung meistern werden. Die ersten Elektrofahrzeuge sind auf dem Markt und die Pipeline scheint vielversprechend. TESLA war hier der Pionier, aber angesichts der aktuellen Marktoffensive der traditionellen OEMs sieht es nicht so aus, dass diese sich an dieser Stelle von TESLA die Butter vom Brot nehmen lassen.

Disruption #2: Digitalisierung

Traditionell sind PKWs Hardware-Produkte, die der Hersteller über mehrere Jahre entwickelt und dann unverändert – abgesehen von einem Facelift – über einen Zeitraum von etwa 7 Jahren vertreibt, bis die neue Modellgeneration auf den Markt kommt. Wenn das erste Exemplar der jeweils neuen Generation vom Band läuft, ist die verbaute Technologie bereits nicht mehr up-to-date. Und der Abstand von verbauter und aktueller Technologie wächst mit der Zeit, die das jeweilige Modell am Markt ist. Die neuen Funktionen, die der technologische Fortschritt ermöglicht, stehen der Kundin und dem Kunden erst mit der nächsten Modellgeneration zur Verfügung. So war und ist es bisher.

Vom Automobil zum Software-Produkt

Mit der zunehmenden Digitalisierung wird das Automobil jedoch immer mehr zu einem Software-Produkt. Damit wird es möglich, auch noch nach der Auslieferung des Fahrzeugs an die Kund:innen, diesem over-the-air neue Funktionen und ganz neue Geschäftsmodelle verfügbar zu machen. Wie beim Smartphone kann ich den Kund:innen via App weitere Dienstleistungen und Funktionen verkaufen und ihr Gerät technisch aktualisieren.

Kontinuierliche Einnahmen durch zusätzliche Funktionen und Dienstleistungen

Für die Automobilindustrie ist das eine Revolutionierung ihrer überkommenen Geschäftsmodelle und Denkweisen. An die Stelle einer Produktentwicklung mit Design Freeze und dem Verkauf des unveränderten Produkts über viele Jahre tritt eine kontinuierliche Pflege, Aktualisierung und Verbesserung des bereits verkauften Produkts. Statt einer einmaligen Einnahme durch den Verkauf des Fahrzeugs wird ein zusätzlicher Geldfluss durch den Verkauf ergänzender Funktionen und Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus des einzelnen Fahrzeugs generiert.

Umstellung erfordert neue Denkweise und Strukturen

Ein TESLA scheint das verstanden zu haben. Für die traditionellen Hersteller ist dies jedoch eine gewaltige Disruption ihrer überkommenen Prozesse, Strukturen und Geschäftsmodelle. Die Entwicklungszyklen bei Software sind ganz andere als bisher in der Automobilindustrie und man bringt eine neue Software auch nicht erst dann auf den Markt, wenn sie 100-prozentig perfekt ist. Schwächen kann man auch nachträglich durch Updates und neue Versionen beheben. Für die traditionellen OEMs wäre das jedoch eine radikale Veränderung ihrer bisherigen Denk- und Arbeitsweise.

Einige von ihnen scheinen zumindest das Problem erkannt zu haben und daran zu arbeiten. Aber es ist schwer und kostet Zeit, etablierte Strukturen und Denkweisen zu überwinden. Da ist es vermutlich nicht damit getan, dass inzwischen alle OEMs ihre Software-Entwicklungskapazitäten massiv ausbauen. Der Vorsprung, den TESLA sich in Bezug auf diese Disruption erarbeitet hat, erklärt vielleicht zum Teil die Tatsache, dass das Unternehmen inzwischen einen Börsenwert aufweist, der dem Vielfachen des Börsenwerts von BMW, Daimler und VW zusammen entspricht.

Disruption #3: Verkauf von Mobilität statt ganzen Autos

Die Lösung unserer Verkehrsprobleme wird auf lange Sicht jedoch nicht darin bestehen, dass wir das heute dominierende Automobil mit Verbrennungsmotor eins zu eins durch digital aufgerüstete Elektrofahrzeuge ersetzen, die dann ebenfalls zu über 90% ihrer Lebenszeit am Straßenrand still stehen. Neue Formen der Mobilität wie die Integration verschiedener Verkehrssysteme, Robotaxis, Car Sharing sowie Ride Hailing und Ride Sharing werden die Zahl der Fahrzeuge drastisch reduzieren, die auf unseren Straßen unterwegs sein werden. Bei der Kundschaft tritt damit an die Stelle des Autokaufs der Einkauf von Mobilitätsdienstleistungen.

Die Automobilhersteller verkaufen ihre Fahrzeuge dann nicht mehr an Endkund:innen, sondern an Mobilitätsdienstleister. Sie geraten dadurch gegenüber den Mobilitäts-Carriern zunehmend in die Rolle, die heute Airbus und Boeing gegenüber den Fluggesellschaften einnehmen. Ein solches Szenario würde die Rolle der Automobilindustrie als Schlüsselindustrie sehr viel gravierender infrage stellen als der Siegeszug der Elektromobilität. Und das wirklich autonom fahrende Auto – Level 5 – wird diesem Szenario einen enormen Push geben.

Sind Automobilindustrie und Politik dafür gerüstet?

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