„Agilität ist Kundenzentrierung“
24.04.2022
Im Interview: Dr. Britta Oehlrich, Bereichsleiterin Wandel und Innovation bei der Hamburger Hochbahn AG
Wandel und Innovation stehen auch bei einem Traditionsunternehmen wie der Hamburger Hochbahn AG ganz oben auf der Tagesordnung. Der Klimawandel lässt immer mehr Menschen ihre Mobilitätsroutinen überdenken und verändert den Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr. Neue Mobilitätsdienstleister fordern die Services des ÖPNV heraus und die digitale Transformation ermöglicht technisch völlig neue Angebote.
Dr. Britta Oehlrich ist studierte Betriebswirtin und seit mehr als 10 Jahren in der Mobilitätsbranche in verschiedenen Positionen bei der Transdev, Deutschen Bahn und TUI tätig. Als Bereichsleiterin Wandel und Innovation (BW) der Hamburger Hochbahn AG will sie die Mobilitätswende nicht nur auf den Straßen, sondern vor allem in den Köpfen ihrer Mitarbeiter:innen anstoßen.
Frau Dr. Oehlrich, könnten Sie kurz zusammenfassen, was Sie bei der Hochbahn eigentlich machen?
Wir befördern täglich eine Menge Menschen! Mehrheitlich mit einer großen Zahl an Bussen, die wir gerade auf Elektroantrieb umstellen und dabei auch Wasserstoffbusse prüfen, mit U-Bahnen, aber auch mit Hafenfähren und Alsterschiffen. Unser aktuell größtes Verkehrsprojekt ist der Bau der U-Bahn-Linie U5, die als erste vollautomatisch fahrende U-Bahn-Linie Hamburgs konzipiert ist und unglaubliche Veränderungen für die Verkehrsströme bewirken wird. Der Bau, der gerade begonnen hat, bedeutet einen riesigen organisatorischen und natürlich auch finanziellen Akt. Unser Ziel ist es, in 20 Jahren in Hamburg im 90-Sekunden-Takt unterwegs zu sein.
Werden dann alle U-Bahnen ohne Fahrer:innen auskommen?
Nur die U5 wird vollautomatisch fahren. An anderen Stellen können wir nach aktuellem technischen Stand nur teilautomatisch fahren, d.h. bestimmte Bereiche werden durch technische Systeme übernommen. Das ist heute schon in einem gewissen Ausmaß der Fall, wird aber im Grad der Automatisierung durch den kontinuierlichen Ausbau der Bestandslinien weiter zunehmen – aber vorne in der Bahn sitzt immer noch ein Fahrer oder eine Fahrerin.
Haben die Fahrgäste nicht Vorbehalte bezüglich der Sicherheit?
Der automatische U-Bahn-Betrieb ist sehr sicher und beim Neubau von U-Bahnen weltweit Stand der Technik. Nicht nur in London, Paris, Rom, Barcelona und Kopenhagen fahren bereits heute U-Bahnen ohne Fahrerinnen und Fahrer. Auch in Nürnberg wird die U-Bahn seit 2008 teilweise vollautomatisch betrieben.
Wie lange wird der Bau der U5 dauern?
Seriöse Aussagen zur Inbetriebnahme sind bei solchen Mammutprojekten nur schwer möglich. Die Verlegung von 25 Kilometern U-Bahnstrecke durch das Hamburger Stadtgebiet dauert schon etwas. Außerdem ist der Bau einer neuen U-Bahn für uns nicht nur wegen der technischen Aspekte revolutionär, sondern auch, weil in Hamburg seit über 50 Jahren kein annähernd vergleichbares Projekt realisiert wurde. Es ist das größte innerstädtische Verkehrsprojekt Deutschlands. Die Bürgerinnen und Bürger sind es nicht mehr gewohnt, dass lange Zeit im Stadtraum mit großen Baugruben gebaut wird.
Wie viele Projekte betreuen Sie im Bereich Wandel und Innovation?
Viele, wenngleich wir uns nicht nur über Projekte definieren. Wir glauben, Innovationen sind nur möglich, wenn das Mindset der Menschen sich ändert, daher versuchen wir neben der Projektarbeit parallel auch die Themen Kultur, Agilität und Veränderung in die Organisation zu tragen. Der Aufbau der notwendigen Kapazitäten, um den „Hamburg Takt“ zu realisieren, bedeutet ein extremes Wachstum. Wir müssen die Prozesse und die Zusammenarbeit verbessern. Dafür brauchen wir Agilität im Denken und Handeln – und den Willen, gemeinsam etwas zu schaffen. Natürlich gibt es genügend Routine-Aufgaben, die einfach abgearbeitet werden, aber eben auch komplexe Projekte, denen die wir uns mit iterativen Prozessen nähern und die eine entsprechende Fehlerkultur erfordern. Wir sind ein tradiertes Unternehmen, aber auch wir wollen uns weiterentwickeln, hier setzt unsere interne Kulturarbeit an.
Sie agieren nicht nur aus dem Elfenbeinturm heraus, sondern integrieren auch Ihre Kolleg:innen von der Basis in diese Themen …
Wir versuchen reale Probleme, die sich in der Organisation stellen, in agilen interdisziplinären Teams zu lösen. Mitarbeiter:innen aus verschiedenen Bereichen und Hierarchiestufen werden dafür über den Zeitraum von sechs Wochen aus ihren Arbeitsbereichen herausgenommen und nähern sich gemeinsam der Aufgabe mithilfe von Design Thinking. Wir haben auf diese Weise z.B. die Nutzerführung an den Fahrkartenautomaten oder die Kommunikation im Schienenersatzverkehr verbessert und sind auch das durch Corona sehr wichtige gewordene Thema „Home-Office-Ticket“ angegangen. Wichtig ist dabei stets die Kund:innenzentrierung, was ja eigentlich Agilität bedeutet, und dabei gleichzeitig den Kolleg:innen zu vermitteln, was hinter dem vermeintlichen Buzzword „Agilität“ eigentlich steckt, nämlich keineswegs ein chaotischer Zustand, sondern ein hoch strukturierter Prozess.
Sie sagen, Agilität sei Kund:innenzentrierung. Laden Sie auch Kund:innen ein, ihre Meinung einzubringen?
Ja, selbstverständlich, die Fahrgäste stehen immer im Fokus. Wir interviewen unsere Kundinnen und Kunden und beobachten ihr Verhalten auf der Straße, z.B. bei konkreten Problemen wie der Beschilderung beim Schienenersatzverkehr. Wir entwickeln Persona und Prototypen, um zu verstehen, wie Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Bedürfnisstruktur mit bestimmten Situationen umgehen. Es geht schließlich darum, optimale Lösungen für die Fahrgäste zu entwickeln und nicht darum, die Prozesse so zu optimieren, wie es für uns am besten ist.
Wie lange gibt es den Bereich Wandel und Innovation schon?
Wir sind 2018 aus der Geschäftsfeldentwicklung gegründet worden, um näher an den Themen der Organisation zu sein und einen Ort für Transformationsprozesse zu schaffen. 2020 sind wir dann mit 22 Personen als Bereich Wandel und Innovation gestartet. Die Teammitglieder stammen aus drei Bereichen und brachten ihren eigenen Hintergrund sowie ihre eigenen Themen mit, sodass sich die Frage nach der Gestaltung der Schnittmenge und Organisation stellte. Da wir als „Innovations-Butze“ angetreten sind, haben wir uns für die Selbstorganisation entschieden, die wir nun seit ca. eineinhalb Jahren üben – und die ungeheuer viel Gesprächsbedarf und Verhandlungen bedeutet.
Ist dieser höhere Kommunikationsaufwand eher vorteilhaft, da alle Kolleg:innen sich gehört fühlen, oder doch hinderlich, weil Entscheidungsprozesse länger dauern?
Mitunter wäre es sicher kurzfristig leichter, einfach Ansagen zu machen. Aber ein hierarchisches Verhalten erzeugt Frust und Unzufriedenheit, weil Entscheidungen gegebenenfalls nicht nachvollzogen werden können. Gute Führungsarbeit, die so etwas vermeidet, bedeutet ebenfalls viel Kommunikation. Die tatsächliche Höhe des Diskussionsbedarfs hat uns allerdings überrascht. Aber im Sinne der Produktivität ist die Selbstorganisation die bessere Organisationsform: Entscheidungen werden immer bewusst getroffen, alle Mitarbeitenden fühlen sich abgeholt und können Entscheidungen auch dann akzeptieren, wenn sie zu ihrem Nachteil ausgefallen sind. Insgesamt stellen wir fest, dass die Zufriedenheit höher ist und weniger Energie auf Nebenkriegsschauplätzen vergeudet wird.
Wie ist die Akzeptanz Ihrer Abteilung innerhalb der Hochbahn?
Insgesamt brauchen wir ein gewisses Level an Frustrationstoleranz ! Veränderungsgedanken suggerieren bei Mitarbeiter:innen häufig, dass etwas nicht gut läuft. Das ist natürlich nicht der Fall, dennoch wollen wir Verbesserungspotenziale prüfen und untersuchen, ob Prozesse und Geisteshaltungen, die vor 30 Jahren das Nonplusultra waren, heute noch aktuell sind und auch in die Zukunft wirken können. Das ist nicht zuletzt eine Generationsfrage. Während meine berufliche Sozialisation beispielsweise noch den Vorstand als höchstes Entscheidungsorgan anerkennt, hört sich mein 25-jähriger Werkstudent allenfalls mal an, was die zu sagen haben. Hier muss vermittelt werden. Insgesamt hat uns Corona sehr dabei geholfen, Themen wie New Work und Agilität in die Wohnzimmer zu bringen und damit auch die Akzeptanz unserer Arbeit zu erhöhen.
Angenommen, die U-Bahn fährt in vielleicht 20 Jahren autonom, was sagen sie den Fahrer:innen, wenn ihr Job dann wegfällt? Welche Alternativen bieten Sie?
Diesen Wandel im Arbeitsleben und den Wegfall von Berufsbildern durch technische Entwicklungen hat es schon immer gegeben, aber in diesem Fall ist er sicher sehr sichtbar. Davon abgesehen, dass wir z.B. im Busbereich auf absehbare Zeit große Probleme haben, Positionen überhaupt zu besetzen, können wir die Altersstruktur der Mitarbeiter:innen so abstimmen, dass ein reibungsloser Übergang in den Ruhestand gewährleistet wird. Darüber hinaus wird an anderen Stellen, wie etwa im Servicebereich, deutlich mehr Personal benötigt, sodass hier eine Verlagerung entsteht. Es ist in jedem Fall wichtig, transparent zu kommunizieren, um die Ängste zu nehmen.
Wie sieht der öffentliche Nahverkehr in 15 bis 20 Jahren strukturell aus?
Wir haben bereits jetzt sehr viele gute Mobilitätsangebote und eine stabile Anbindung. Ich selbst fahre kein Auto und nutze mein Fahrrad sowie den ÖPNV, daher brauche ich eine gute Verquickung der Services bei einem barrierefreien Zugang und dies möglichst rund um die Uhr. Genau das leistet leider das Auto. Hier müssen wir eine Alternative bieten. Dies ist in Hamburg natürlich leichter zu realisieren als in den Pendlergebieten, aber um die Mobilitätswende zu vollziehen, müssen wir auch dort attraktive Angebote schaffen.
Involvieren Sie auch den Einzelhandel?
Ja, sogar ganz konkret: In einem Modellversuch haben wir an zentraler Stelle in der Hamburger Innenstadt ein Mikrodepot für Dienstleiter wie DHL, Hermes & Co. errichtet, von wo aus die Feinverteilung der Pakete umweltfreundlich mithilfe von Lastenfahrrädern erfolgt. Dies verringert Staus und Emissionen. All dies sind Projekte für die Mobilität von morgen.
Frau Dr. Oehlrich, vielen Dank für das Gespräch.
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